Von der Tanzfläche zur Wahlurne

Die Stimmbeteiligung bei Jugendlichen ist tief. Obwohl die Masseneinwanderungsinitiative 2014 die Schweiz bewegte, beteiligten sich laut Vox-Analyse nur 17 % der 18- bis 29-Jährigen an der Abstimmung. Mit dem «Politischen Katerbrunch» soll nun die Jugend wieder vermehrt Interesse an der Politik gewinnen.

Der Gaskessel liegt an der Sandrainstrasse direkt an der Aare. Seit 1971 fungiert das ehemaligen Gasreservoirs der Stadt Bern als Jugend- und Kulturzentrum. Es ist aufgeteilt in zwei sphärische Halbkugeln und einer grossen Terrasse. Als Verein organisieren die bis zu 100 jugendlichen Mitglieder Konzerte, Partys, Theateraufführungen, Ausstellungen, Diskussionen und Filmnächte.

Vor Abstimmungen findet hier jeweils der politische Katerbrunch statt. Jung und Alt treffen sich zur Meinungsbildung und zur Diskussion mit anderen interessierten Mitmenschen. Das Podium setzt sich jeweils ausgewogen aus allen politischen Richtungen zusammen. Die Experten stehen allen Fragen der Besucherinnen und Besucher Red und Antwort. Um trotz der Party am Vorabend im Gaskessel gestärkt in den Event zu starten, gibt es im Vorfeld einen ausgiebigen Brunch. Das Ziel ist es, möglichst viele Jugendliche an die Diskussion zu locken, deshalb ist das Essen für unter 18-jährige kostenlos. Je älter man ist, desto mehr zahlt man, das Maximum hat man mit 25 Jahren und 15 Franken erreicht. Das Podium ist für alle kostenlos.

Eingerichtet wie ein Wohnzimmer, setzten die Veranstalter alles daran, dass man sich wie Zuhause fühlte und so auch seine Meinung öffentlich kundtat. Die Stimmung war sehr familiär, als würden sich alle schon lange kennen. Dies sei nicht so, erwiderte mir Florian Burkhalter vom Gaskessel. «Einige sind jedes Mal dabei und auch sonst viel hier, andere habe ich noch nie gesehen», erwähnte er, als er das Essen von der Küche an das Buffet stellte. Die Räumlichkeiten und die Verpflegung wurden vom Gaskessel bereitgestellt. Während das Podium wie auch die Politiker/innen vom Jugendparlament Köniz und Jugendparlament der Stadt Bern organisiert wurde. Das Buffet sah auf den ersten Blick wie in einem einfachen Hotel aus. Auf dem Zweiten fiel mir auf, dass alles vegetarisch war. «Einerseits richten wir uns nach den Gästen, aber andererseits wollen wir auch ein Vorbild für die Jungen sein. Einige sind skeptisch und trinken normalerweise nicht Soja- oder Mandelmilch, im Nachhinein hat sich aber noch nie jemand beschwert», versicherte mir Florian. Langsam füllte sich der Raum und es kamen immer mehr kleine Gruppen. Sie begrüssten sich gegenseitig und verpflegten sich anschliessend.

Rund eineinhalb Stunden später startete die Podiumsdiskussion im selben Raum. Einige schlangen noch ihr Sojajoghurt hinunter und räumten dann ihren Tisch ab, während neben dem Eingang der Beamer bereits die Begrüssung der Präsentation zeigte. Florian hatte es sich mit Gästen auf einem Sofa seitlich des Raumes gemütlich gemacht, während seine Kollegin den nächsten Programmpunkt ankündete.

Am Podium waren 36 Personen anwesend, 16 davon hatten bei der Anmeldung angegeben, dass sie unter 20 Jahre alt waren. Vier Besucher waren über 40 Jahre alt, diese kommen laut dem Veranstalter regelmässig. Ich hatte einige junge Gäste angesprochen, wieso sie an einem Sonntag über politische Themen diskutieren wollten. Im Gymnasium würden sie jeweils die Abstimmungsthemen behandeln und auch darüber getestet werden, sagte mir eine Teilnehmende. « Das machen schon nicht alle, aber durch Themen wie den Klimawandel nimmt das Interesse an der Politik wieder ein wenig zu», fügte ihre Kollegin hinzu. Allgemein fehlte beiden jungen Personengruppen jede Spur von Männern und mir wurde klar, dass dies auch ein Grund des Aufschwungs der Frauen in der Politik sein könnte. Schätzungsweise waren nur 10 % der Anwesenden männlich, obwohl der Anlass nicht für ein Geschlecht konzipiert war. Die Veranstalter bemühten sich aber jeweils, Politikerinnen und Politiker in gleicher Anzahl einzuladen. Was nicht immer einfach sei, da in erster Linie die Diskussion ausgeglichen sein soll.

An diesem politischen Katerbrunch ging es um die Abstimmung über die Steuerreform und AHV-Finanzierung (STAF) vom 19. Mai 2019. Um an der Diskussion teilzunehmen, benötigte man kein Vorwissen, denn es wurde versucht, möglichst einfach die ganze Vorlage Schritt für Schritt zu erläutern. Gut sichtbar war dies auch bei der Umfrage im Vorfeld, denn ein grosser Teil hatte sich enthalten. Einige wenige stimmten zu diesem Zeitpunkt «Ja» ab und etwa ein Drittel «Nein», während viele noch keine Meinung hatten. Im Anschluss an die vielen Informationen erhöhten sich die Menge der Ablehnungen nur minim und die Enthaltungen waren beinahe bei null, sodass der Ja-Anteil klar überwog. Die Gäste wurden aufgefordert, bei Unklarheiten die Hand zu heben und bei grundlegenderen Fragen oder fälschlichen Aussagen nicht zu lachen.

Als Erstes wurden die Politiker/innen des Podiums von Angela Kobi vorgestellt, sie leitete die Gesprächsrunde. Auf der Contra-Seite war einerseits Alexander Martinolli, Präsident der Jungfreisinnigen der Uni Bern und Vorstandsmitglied der Jungfreisinnigen des Kantons Bern. Obwohl er politisch am weitesten entfernt von den Anwesenden im Publikum war, konnte er seine Argumente verständlich kommunizieren. Ich war erstaunt, wie wenig Gegenstimmen ertönten. Jonas Fuchs aus der Jungen Alternative Bern hätte ihn politisch nicht unterschiedlicher komplementieren können. Was sehr spannend war, denn die beiden Parteien besitzen eine völlig kontrastierte Sichtweise und sind sich sonst nie einig. Noch ein wenig zurückhaltend bei den Gesprächen über die AHV, entflammte Jonas erst bei der Diskussion über die Steuerreform. Man merkte ihm die fehlende Erfahrung an, so wirkte er manchmal ein wenig unsicher. Durch die Rückenstärkung einiger Teilnehmenden im Plenum, wagte er immer mehr seine differenzierte Meinung preiszugeben.

Laura Curau auf der anderen Seite, Nationalratskandidatin der CVP Kanton Bern und ehemalige Kampagnenleiterin der CVP, war über die Steuerreform und die Lösung zur AHV-Finanzierung sichtlich überzeugt. Man merkte ihr den Enthusiasmus an und erhielt auf jede Frage eine motivierende Antwort. Neben ihr sass die offensichtlich erfahrenste Politikerin im Raum, Mirjam Veglio. Die 51-Jährige ist Co-Präsidentin der SP Kanton Bern und sieht diese Abstimmung als langersehntes Ziel an. Vor allem die Sanierung der AHV war ihr wichtig.

Nachdem alle Podiumsgäste ihre Positionen verkündeten und ihre Argumente schilderten, kam es zu der eigentlichen Diskussion. Bei der AHV waren sich alle Parteien einig: Man muss handeln, um die Altersversicherung langfristig sanieren zu können. Bei der Annahme der Initiative würde der Bund einerseits jedes Jahr 800 Millionen Franken mehr in die AHV einzahlen. Andererseits steigen die AHV-Beiträge für die ArbeitnehmerInnen und die ArbeitgeberInnen um je 0.15 Prozent. Dies würde der AHV pro Jahr zwei Milliarden zusätzlich zur Verfügung stellen. Doch ist diese Initiative die Lösung? «Nein», meinte Martinolli klar. Es gäbe keinen Grund, wieso die Leute heutzutage 100 Jahre alt werden, aber nur bis 64 arbeiten müssen, auch wenn dies schön wäre. Daraufhin meldet sich erstmals eine Person aus dem Publikum: «Wie soll man noch länger arbeiten können, wenn man ab 50 Jahren schon keinen Job mehr findet?» fragte der junge Zuhörer. Während der Jungfreisinnige ablenken will, dies sei dann wieder ein anderes Problem und er kenne die genauen Zahlen nicht auswendig, bestätigt Mirjam Veglio die starke Tendenz. Viele wollen ältere Leute nicht einstellen, denn sie gälten als unflexibel und stur, wären aber sehr wichtig dank der grossen Erfahrung.

Das Gespräch fand thematisch immer mehr in die Richtung der Steuern und Beiträge der Bevölkerung. Die Zunahme sei für die Co-Präsidentin der SP Kanton Bern nur halb so schlimm, da diese prozentual am Lohn bei Arbeitgeber und Arbeitnehmer anfalle und dies die Unterschicht weniger belaste als beispielsweise eine Erhöhung der Mehrwertsteuer. Darauf verkündete Laura Curau, dass die CVP bereits eine Reform vorbereiten würde, um nochmals Anpassungen vorzunehmen. Nach einer positiven Abstimmung könnten sie bei der Neuerung die Mehrwertsteuererhöhung von + 1.5 % auf + 0.8 % senken.

Dies war ein guter Zeitpunkt, um auf die Änderungen der Unternehmenssteuer überzuleiten. Es sei fair, alle Unternehmen mit Sitz in der Schweiz gleich zu besteuern. Im Gegenzug werden neue steuerliche Entlastungen eingeführt, die für alle Schweizer Betriebe möglich sind, die sich mit Forschung oder Entwicklung beschäftigen. Das seien genau die Jobs, die wir hier wollen, fügte Veglio hinzu. Ausserdem sei dieses Wettrennen nach den tiefsten Unternehmenssteuern ungesund, wie es jetzt auch in den Kantonen passiere. Viele haben vor, dadurch lukrativer zu werden. Die Kantone haben somit weniger Einnahmen. Deshalb unterstützt sie der Bund mit zusätzlichem Geld. Trotz dieser «Kröte im Hals» sei es für sie ein klares «Ja», versicherte die SP-Frau. Es seien gute Anpassungen an dieUnternehmenssteuerreform III gemacht worden, über die man 2017 abgestimmt hatte. Für immer könne man mögliche Lösungen nicht ablehnen.

Ich war wirklich von der Professionalität überrascht und wie friedlich diskutiert wurde. Trotz des alternativen Kulturlokals und der mehrheitlich politisch linken Gäste, gab es interessante Wortgefechte unter den Teilnehmenden wie auch auf der Bühne. Immer wieder hatte ich gehört, dass es super sei, wie mit ihnen interagiert wird. Dies war auch mein Eindruck. Anstatt vor dem Fernseher sich die Streitgespräche in der Arena des Schweizer Fernsehens anzusehen, wird man am politischen Katerbrunch deutlich besser informiert. Während im TV verschiedene pointierte Meinungen aufeinanderprallen, wurde hier sachlich diskutiert. Während sonst mit Fachbegriffen um sich geschossen wird, hat man hier versucht, die Sprache einfach zu halten. Zusammenhänge von verschiedenen politischen Entscheidungen, die auf den ersten Blick nicht einleuchtend sind, wurden in aller Ruhe erläutert. Ich war mir sicher, dieser Anlass hat seine erhoffte Wirkung und wird in Zukunft noch mehr Junge anlocken können. Die Politiker/innen hatten Verständnis für Unwissen und waren dankbar für das gezeigte Engagement. So waren sich ganz am Ende wieder alle einig: «Egal was, geht bitte abstimmen!»

Im Anschluss an das Podium konnten Interessierte auf der Terrasse noch weiter diskutieren. Dazu wurden sie kostenlos mit Bier versorgt, sofern sie alt genug waren und sich ausweisen konnten. So wurde beim politischen Katerbrunch also der Bogen zum Alkohol geschlossen. Auch wenn am nächsten Tag kein Brunch im Gaskessel Bern stattfindet und sich alle bis zu den später folgenden Abstimmungen gedulden müssen.


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